Niederrheinische Blätter (Beilage der Rheinischen Post) vom 13. November 2002

Trutzig trotzt der Turm


Von oben schütten die Verteidiger siedendes Öl auf die Männer, die tief unter ihnen den Eckturm unterminieren und aus dem Gleichgewicht bringen wollen. Anno Domini 1339. Ein englisches Heer von rund 15 000 Mann belagert im Nordwesten Frankreichs die Festung von Coucy mit dem gewaltigsten Wehr- und Wohnturm (Donjon), der jemals im Abendland gebaut worden ist. Zuschauer sind die Besucher im Museum Burg Linn in Krefeld.
In der Schiffshalle, in der eigentlich schon der Karolinger-kahn aus dem 8. Jhdt. anlegen sollte, steht ein sechs mal sechs Meter großes Modell des Bollwerks im Maßstab 1:25, das Bernhard Siepen und seine Freunde von der Gesellschaft für Internationale Burgenkunde
Aachen zusammen mit zirka 2 400 Figürchen aufgebaut haben. Für die "Vorstellung" reicht diese Zahl auch. Kein Breitwandfilm kann die faszinierende Atmosphäre ersetzen, die den Betrachter  in  eine  Zeit  vor 660

Jahren blicken lässt. Gerade die Unbeweglichkeit der Szenerie vermittelt die Dimensionen zwischen den Menschen und der Masse der aufgeschichteten Steine.
Baron Enguerrand III. hat auf seinem Besitz die Feste von 1223 bis 1225 errichten lassen, an dem sich - das sei vorweggenommen - ­die Engländer 115 Jahre später die Zähne ausbissen. Die Burg fiel nämlich erst 1917 unter der Detonation von 28 Tonnen Dynamit. Zurück ins Jahr 1339. Die Angreifer vertrauen nicht nur der Kunst ihrer emsigen Wühl-mäuse. Sie verfügen noch über ganz andere Mittel, die Mauern zu knacken und die Bastion zu stürmen. Rammböcke schlagen gegen das Gemäuer, dessen Inneres zementiertes Geröll ist. Triböcke und Mangen
schleudern Steine gegen und Kadaver in die Burg, unzählige Salven von Pfeilen schwirren durch die Luft. Die englischen Soldaten schieben mächtige Sturmtürme an die Mauern heran, um die Wehrgänge zu   entern.    Über    Sturmleitern

klimmen sie in schwindelnde Höhen und stürzen mit den umgestoßenen Leitern in die Tiefe. Die Figuren sind stumm. Dennoch vermeint man, das Geschrei der Verletzten und Sterbenden zu hören.
Die Franzosen sind gut gerüstet. Ihnen kommt zugute, dass sie von oben kämpfen. Aber sie müssen mit dem Vorrat an Nahrung und Munition haushalten. Es ist ris-kant, ab und zu das Tor zu öffnen und über die Zugbrücke mit den Reitern einen Ausfall zu wagen. Nur Wasser haben sie genug, um den Durst zu löschen und die Feuer. Denn die Engländer kennen ebenfalls die Wirkung brennenden Teers.
Das Modell zeigt nicht nur den Krieg. Während einer Belagerung ging auch das "normale" Leben weiter. So sieht man nicht nur Ritter und Knappen im Kampf, sondern auch friedliche Szenen.
Die Aachener Burgenkundler haben außerdem das Panorama eines französischen Ritter-turniers im 14. Jahrhundert nachgestellt. Bis zum 8. Januar 2003.
Dietrich Hennes


Modell des Donjon mit 2500 Figuren.