Frankfurter Rundschau vom 18. Januar 2003

Verschwundene Türme
Die Ausstellung "Wolkenkratzer des Mittelalters" im Archäologischen Museum


Von Hans-Jürgen Linke

Drei Jahre nur brauchten die Bautrupps Enguerrands III, des selbstbewussten und offenbar überaus reichen und mächtigen Herrn von Coucy, um eine gigantische Stadt- und Burganlage zu errichten. Optisches und militärisches Zentrum dieser Anlage war der Wohn- und Wehrturm, französisch: Donjon, der auf einem etwa 60 Meter hohen Felsenrücken lag und selbst 55 Meter hoch war. Ab 1225 stand er alles überragend in der Landschaft; er war rund, hatte einen Durchmesser von 31 Metern, und die Mauerstärke betrug 7.50 Meter.
Mit der Belagerungstechnik der Zeit war die Anlage von Coucy offenbar nicht einzunehmen, wie unter anderem die Engländer während des Hundertjährigen Krieges zu spüren bekamen. Im Jahre 1917 brauchten deutsche Truppen immerhin 28 Tonnen Dynamit, um den Donjon von Coucy zu sprengen. Kurz zuvor war er allerdings noch vermessen worden.
Heute ist er ein archäologisch interessanter Trümmerkegel in der nordfranzösischen Landschaft. Und im Erdgeschoss des Archäologischen Museums in der Karmelitergasse 1 steht er jetzt als Modell im Maßstab 1:25 als imposante Spielzeug-Ritterburg, in der etwa 2500 handgefertigte Figuren mittelalterliches Burgleben samt Verteidigungsfall und Angriffsmaschinerie darstellen. Man kann sich einigermaßen vorstellen, wie auf mittelalterliche Menschen, die an
groß dimensionierte Gebäude nicht unbedingt gewöhnt waren, eine solche  massige  Architektur

gewirkt haben mag. Zu der Anlage gehörten vier weitere  Wehrtürme, von denen jeder immer noch größer war als die meisten anderen Donjons, die im Mittelalter in Frankreich erbaut wurden. Das Modell ist Zentrum einer Ausstellung mit dem folgerichtigen Titel "Wolkenkratzer des Mittelalters", die das Archäologische Museum in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Internationale Burgenkunde Aachen zeigt. Die Gesellschaft hat nicht nur die große Ritterburg gebaut, die jetzt im Museum steht (und dafür nur ein halbes Jahr weniger gebraucht als die Bautrupps von Coucy im 13. Jahrhundert für das Original), sondern auch eine ausführliche Dokumentation erarbeitet, die sich der vielgestaltigen Architektur der Donjons in Frankreich widmet. Darunter befindet sich auch der bekannte Donjon von Aigues Mortes in der Camargue, den Ludwig IX. nach 1244 erbauen ließ. Der war mit seinen 22 Metern Durchmesser und einer Mauerstärke von sechs Metern zwar nicht annähernd so groß wie der von Coucy, ist dafür aber vollständig erhalten und nach wie vor beherrschend im Stadtbild von Aigues Mortes.
Fast die gleichen Ausmaße hatte ein Wehrturm, der heute so gut wie vergessen ist, weil von ihm keine zeitgenössischen Zeugnisse überliefert sind. Seine Reste wurden eher zufällig entdeckt, als im Jahre 1942 auf dem Frankfurter Römer wegen der zunehmenden Bombenangriffe Löschwasserbecken gebaut wurden; aus naheliegenden Gründen konnte damals auf die archäologische Erschließung dieses Fundes keine große Aufmerksamkeit verwandt werden.           Zwei            weitere

Ausgrabungen 1959 und 1971 gaben nähere Auskünfte über das Bauwerk. Unklar ist allerdings, ob dieser Staufer-Turm je als fertiges Bauwerk zu sehen war oder in welchem Stadium die Bauarbeiten abgebrochen wurden. Fest steht jedoch, dass die erste Wolkenkratzer-Baustelle Frankfurts in der Mitte des 13. Jahrhunderts auf dem Römerberg lag. Eine Dokumentation zu diesem Turm ist Teil der Ausstellung im Archäologischen Museum.
In der Schau befindet sich ebenso das Modell eines ritterlichen Turniers des 14 Jahrhunderts, das vom Sire von Coucy veranstaltet wurde. Und damit wird deutlich: Das Archäologische Museum will mit dieser Ausstellung nicht nur die seriös gesinnten Architektur- und Mittelalter-Historiker ansprechen, sondern auch Kinder und jung gebliebene Erwachsene, die gern mit Ritterburgen spielen oder gespielt haben. Auf ein solches Publikum ist das breit angelegte museumspädagogische Begleitprogramm mit Führungen und Sonderveranstaltungen ausgerichtet.

INFO
Archäologisches Museum, Karmelitergasse 1, bis 6. April. Führungen für Erwachsene sonntags 14 Uhr, mittwochs 18 Uhr; Sonderführungen für Gruppen, Schulklassen nach Anmeldung, Tel.: 069/21235896, E-Mail: infoarchaeolm­us@stadt-frankfurt.de. Am 22. Januar GIB e.V.t es eine kostenlose Führung für Lehrer. In Kooperation mit dem Kindermuseum des Historischen Museums werden dienstags bis, freitags 10-13 Uhr Kombi-Führungen angeboten
Internet:archaeologisches-museum.frankfurt.de

Eine Ritterburg nicht zum Spielen, sondern zum Veranschaulichen des Lebens, Belagerns und Verteidigens in einer mittelalterlichen Wehranlage steht im Erdgeschoss des Archäologischen Museums.
                 (Bild: Uwe Dettmar / Archäologisches Museum)